Neulich abends sah ich zur Entspannung kurz vor dem Einschlafen eine vom ZDF ausgestrahlte Sendung, vorzüglich moderiert vom meinerseits überaus geschätzten Harald Lesch. In „Leschs Kosmos“ ging es um Fleischgenuss und seine Folgen. Die Herstellung und Auswirkungen von Fleisch, früher nannte man es Tierhaltung, heute eher –produktion, sind gelinde gesagt eine Katastrophe. Leider riecht und schmeckt es in vielen Fällen und vor allem vielen Menschen ausgesprochen gut. Es geht hier aber nicht um Fleisch. Sowohl zu Beginn, als auch zum Ende der Sendung wurde auf eine Sache wertgelegt, die so in jeder Form in annähernd jeder Reportage im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und auch auf privaten Kanälen zu finden ist: der Hinweis, dass noch der kritischste Beitrag, der alle sauber recherchierten Fakten bedingungslos aufzeigt und beschreibt, nicht umhin kann uns zu sagen Nein, das bedeutet natürlich nicht, dass Sie auf Fleisch gänzlich VERZICHTEN sollen. Jede Sendung, die das Thema Gluten aufgreift sagt, nein, das bedeutet natürlich nicht, dass Sie jetzt auf Brot und Nudeln verzichten sollen, essen Sie was Ihnen schmeckt! Gegen essen Sie, was Ihnen schmeckt spricht natürlich erst einmal nicht viel, es ist nur der Gipfel der Relativierung.

Eine recht simple Erklärung dafür, lieferte mir neulich morgens mein Vater. Als Gast bei meinen Eltern, stellte man mir die Frage was ich denn derzeit überhaupt essen würde und gedenke zum Frühstück zu essen. In solchen Situationen erkläre ich gern, man solle sich keine Gedanken machen, ich mach mir schon was. Dass meine Nahrungsgewohnheiten von ihren eigenen abweichen ist für meine Eltern grundsätzlich nichts Neues, das kennen sie seit über 20 Jahren. Seit neben Fleisch auch Milchprodukte, Eier und Getreide weitgehend von meinem Teller verschwunden sind, wurde es für sie unübersichtlich. Ich spähte also nach Vorräten und fing an Kartoffeln zu schälen und zu dünsten, um sie später zusammen mit Rucola und geraspelten Möhren zu einem italienischen Frühstückssalat zu verarbeiten. Dazu gab es grünen Tee. Neben mir wurden Brötchen gebacken, Wurst, Käse und Marmelade auf den Tisch gestellt, Eier und Kaffee gekocht und Obst geschnitten. Mein Vater und ich diskutieren seit Jahr und Tag am Tisch darüber was gegessen wird, das macht mich weder stolz noch finde ich das gut, noch ist es konstruktiv, dennoch werde ich immer wieder schwach. Dem kritischen Blick meines Vaters war also nicht mehr auszuweichen und ich hörte mich fragen, ob es denn ein Gesetz gäbe was man zum Frühstück ist. Die Antwort war simpel und auf den Punkt: „Nein, es gibt natürlich kein Gesetz was man frühstücken sollte, es geht nur gegen die Tradition und wir sind ja hier nicht in Asien!“. Das saß, der Satz ärgerte mich im ersten Moment und ich hielt ihn für borniert, bei späterem Nachdenken findet sich darin viel Wahres. Der Satz erklärt viel, unter anderem erklärt er, warum jede Sendung im Anschluss an kritische Gegebenheiten erklärt, man müsse daraufhin jetzt natürlich nicht gleich von seinen Gewohnheiten abweichen, nur vielleicht ein bisschen weniger Hiervon und Davon. Umgekehrt endete der begeisterte Bericht eines Bekannten nach seiner Indienreise mit dem Worten: „ich bin jetzt aber doch froh mal wieder morgens ein Toast zu essen, statt immer nur Dal“ (Linsengericht). Auf Reisen in Deutschland begegnet mir in den etwa 50 Hotels in denen ich pro Jahr frühstücke, zu 95 Prozent das Gleiche Frühstück. Von den mitteleuropäischen Frühstücksgewohnheiten weichen überhaupt meist nur sehr hochpreisige Hotels ab, die zudem noch ein internationales Publikum aus dem asiatischen Raum beherbergen. Frühstück und Nahrungsmittel im Allgemeinen sind neben Gewohnheit vor allem auch Tradition und von Traditionen abzuweichen ist anscheinend heikel und das wiederum auch verständlich. Man möchte das Gute bewahren, nur was wenn man infrage stellt, was für einen selbst gut ist? Von Traditionen und Gewohnheiten abzuweichen und sie für sich komplett in Frage zu stellen bedeutet mehr als nur was Anderes zu essen, man findet sich plötzlich in einer gesellschaftlichen Diskussion wieder. Von Seiten populärer Medien wurde das in letzter Zeit gern als Hysterie auf dem Teller, Ersatzreligion, Orthorexie und Definition übers Essen bewertet. Meine Antwort an Spiegel, Welt, Süddeutsche und Co.: Bitte alle mal wieder runterkommen, es geht nicht um Hysterie, es ist ein Ringen um Tradition! Traditionen haben auch immer etwas mit Identität und Entwicklung zu tun. Wer also die Deutschen fragt, ob ihr Brot eventuell nicht so gesund ist und die Italiener, ob Pasta vielleicht nicht die ideale Nahrungsgrundlage ist und die Mexikaner, ob Mais usw., es wäre fast schon naiv allzu große Gegenliebe zu erwarten, während ein Großteil der Gesellschaft Getreide liebt oder für unverzichtbar hält. Unverträglichkeiten und Erkrankungen sind ja das Eine, aber der freiwillige Verzicht, wenn auch aus gutem Grund? Verzicht muss für Akzeptanz erst einmal erklärt werden, deshalb aber gleich Hysterie zu vermuten, geht mir zu weit.

In meinen Augen sind Gewohnheit und Tradition auch eine gute Antwort auf die Frage, warum es viele Ersatzprodukte gibt, die traditionellen Fleischwaren und Wurst ähneln und warum es glutenfreies Brot und Gebäck gibt. Es passt eben zum Rest und man minimiert dabei (das mögen Manche anders sehen) das Gefühl von Verzicht. Trotz gelegentlichem Konsum bin ich kein großer Fan von Ersatzprodukten und betrachte sie eher als eine Ausweichmöglichkeit um sich in „Außer-Haus-Situationen“ (diese wunderbare Beschreibung stammt aus einem wissenschaftlichen Artikel) nicht gänzlich verloren zu fühlen. Bevor sich jetzt jemand fragt wo das hinführt, dieses lange Vorwort dient nichts anderem als dem Einstieg zum eigentlichen Thema „Warum kein Gluten mehr? Da musst Du doch auf so viel verzichten!“

Was ist überhaupt Gluten?

Gluten verbindet sich aus den Proteinen der Prolamin- und Glutelin-Gruppen. Im Falle von Weizen sind dies Gliadin und Glutenine. Sie sind in den meisten Getreidesorten enthalten. Wenn sie nass werden und sich verbinden, entsteht Gluten, zum Beispiel beim Anrühren von Teig für Backwaren.

Gluten kann die Durchlässigkeit der Darmbarriere erhöhen. Verursacht wird dies durch das Gliadin, welches die Zonulin-Freisetzung erhöht. Zonulin reguliert den Austausch von Flüssigkeit, Makromolekülen und weißen Blutkörperchen zwischen dem Blutstrom und dem Darmlumen. Reize wie Gliadin veranlassen die Darmepithelzellen, Zonulin in das Darmlumen und in die Blutgefäße abzugeben. Das Zonulin bindet an Rezeptoren auf der Oberfläche der Darmepithelzellen und löst eine Signalkaskade aus, durch die sich die Zellen zusammenziehen. In der Folge öffnen sich die Tight junctions, vorstellbar als Verbindungskanäle vom Darmlumen zu den Blutgefäßen. Findet die Zonulin-vermittelte Öffnung der Tight junctions wiederholt und verstärkt statt, entwickelt sich das Leaky gut-Syndrom, der Darm wird durchlässiger.

Der Gluten-Bestandteil Gliadin ist ein Lektin, es bindet sich bevorzugt an bestimmte Zuckermoleküle, die sich zum Beispiel auf Zellen befinden. Es ist gegen Verdauungsenzyme weitgehend resistent. Es wird also nicht wie die meisten anderen Proteine in kleine Peptidstücke gespalten, was es für uns alle recht schwer verdaulich macht. Diese großen Peptide interagieren mit dem Lymphgewebe, also Immunzellen, die sich eingebettet in der Darmschleimhaut befinden. Dabei können sie Entzündungsreaktionen auslösen, die mit schlechter Nährstoffaufnahme, Bauchschmerzen, Übelkeit und Durchfall einhergehen und Anämie, Osteoporose, Autoimmun- und Tumorerkrankungen zur Folge haben können. Das kann so sein, muss es aber nicht. Was macht jetzt den Unterschied?

Gliadin hat einen hohen Anteil an den Aminosäuren Prolin und Glutamin (Proteine sind aus Aminosäureketten aufgebaut). Es wird während der Verdauung eben nur in lange Peptide gespalten und erreicht so die geschädigte Darmschleimhaut. Dort werden die Peptide von Antigen-präsentierenden Zellen erkannt und können durch eine T-Zell-vermittelte Immunreaktion Entzündungen auslösen. Das wiederum passiert aber nur, wenn vorher ein weiteres Enzym, die Transglutaminase an die langen Gliadinpeptide bindet.

Welche Rolle spielt jetzt die Transglutaminase?

Gliadin und das Enzym Transglutaminase passen gut zusammen und verbinden sich miteinander. Dabei wird aus der Aminosäure Glutamin negativ geladenes Glutamat (deaminiertes Gliadin-Peptid). Die genetische Ausstattung (HLA-DQ2, HLA DQ7 und HLA DQ8) einer Person entscheidet dann mit über die Prädisposition (genetische Vorraussetzung) für eine Zöliakie. Aufgrund dieser Gene bilden sich auf den Zellen Rezeptoren, also Bindungsstellen aus, die eine hohe Affinität zu negativ geladenen Aminosäuren haben. Diese sind in Gliadin normalerweise kaum vorhanden, entstehen jedoch durch die Reaktion von Gliadin mit Transglutaminase (TG2). Diese negativ geladenen Peptidkomplexe docken an die Rezeptoren der Antigen-präsentierenden Zellen an und lösen dort eine Immunreaktion aus, Entzündungssignale werden durch T-Zellen ausgebildet und B-Zellen bilden nachweisbare Antikörper gegen Gliadin und die Transglutaminase. Wurde eine Entzündung ausgelöst, wird daraufhin wieder vermehrt Transglutaminase freigesetzt. Es ist also ein kleiner Teufelskreis, der immer wieder anspringt und entscheidend davon abhängt, ob das Darmgewebe geschädigt ist, Transglutaminase bindet und Rezeptoren vorliegen, die diese (deaminierten)-Peptid-Transglutaminase-Komplexe binden und dann die Immunreaktion auslösen.

Da ungefähr die Hälfte der von Zöliakie betroffenen Personen trotz glutenfreier Diät keine gesunde Darmschleimhaut aufweist (verstecktes Gluten, Außer-Haus-Situationen), arbeitet die Forschung derzeit an Inhibitoren für Transglutaminasen.

Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass N-acetyl-glucosamine (NAG), ein gewebestabilisierender Aminozucker, der aus Aminosäure und Glukose besteht, als sogenannter kompetitiver Inhibitor eingesetzt werden kann um zu verhindern, dass Gliadin-Transglutaminase-Komplexe entstehen. Es kann zur Wiederherstellung der Darmschleimhaut eingesetzt werden, da es für die Sekretion der Schleimhaut benötigt wird, was wiederum den Schutzwall der oberstersten Schleimhautschichten darstellt.

Man weiß heute, dass sich Zöliakie nicht nur in der Kindheit, sondern in allen Lebensphasen entwickeln kann, daher würde ich behaupte, dass sich auch Glutenunverträglichkeiten entwickeln können und die steigende Zahl betroffener Personen auch der erhöhten Aufmerksamkeit und neuen Forschungsergebnissen geschuldet ist und nicht immer nur mit Einbildung abgetan werden sollte.

NichtZöliakieNicht-Weizenallergie-Weizensensitivität oder auch Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität (NCGS)

Bekannt ist, dass nur ein kleiner Teil der Bevölkerung an Zöliakie leidet, dennoch werden Unverträglichkeiten gegenüber Getreide und vor allem Weizen beschrieben, Akürzung NCGS. Eine Reihe von Publikationen, die sich mit Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität beschäftigen, gehen auch der Frage nach, ob überhaupt Gluten an sich oder eben auch andere Stoffe als Auslöser der Getreideunverträglichkeit in Frage kommen. Dabei stehen zwei Stoffe im Fokus.

Sind für die Getreide- oder Weizensensitivität ATIs (Amylase-Trypsin-Inhibitoren) oder FODMAPs und nicht Gluten verantwortlich?

Zur Zeit leiden aktuell 5 –10 Prozent an einer Getreideunverträglichkeit, Tendenz steigend. Die Universtität Mainz untersucht im Leibnitz-Forschungsprojekt „Wheatscan„, ob dabei immer das Gluten selbst für die Unverträglichkeit verantwortlich ist oder Proteine namens alpha-Amylase-Trypsin-Inhibitoren (ATI), die bestimme Zellen des angeborenen Immunsystems aktivieren. Diese sind ein natürliches Insektizid, welches das Getreide vor Parasiten schützt. Der Gehalt dieses Stoffes wurde in den modernen Hochleistungsgetreidesorten gezielt erhöht, um es resistenter gegen Schädlingsbefall zu machen. Das würde die Zahl der steigenden Fälle mit einer sogenannten Glutenunverträglichkeit erklären. Einige ältere Getreide wie zum Beispiel Dinkel, aber auch einige moderne Sorten können um etwa 50 Prozent weniger ATIs enthalten als andere moderne Sorten. Laut DGVS (Deutsche Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs-und Stoffwechselkrankheiten) reicht, damit die Symptome einer Getreidesensitivität verschwinden, wahrscheinlich eine Reduktion der Aufnahme ATI-haltiger Lebensmittel um 90 Prozent aus.

Auch sogenannte FODMAPs, fermentierbare kurzkettige Kohlenhydrate und Zuckeralkohole, enthalten in Getreide aber auch zahlreichen anderen Lebensmitteln, sind Gegenstand der Forschung.

Mehr dazu und wie das Gefühl von Verzicht vergeht, gibt es im nächsten Beitrag, es folgt Gluten Teil II. Nur soviel, das Gefühl wie sehr optimale Ernährung zum Wohlbefinden beiträgt, nenne ich Faszination und nicht Verzicht, schon gar nicht Hysterie.

 

Informationen zu diesem Text sind der Pressemitteilung der DGVS Juni 2015 mit den folgenden Literaturangaben und der Ausgabe Life Science Serie 2 April 2016 entnommen. www.goingpublic.de/lifesciences

Nonceliac gluten sensitivity. Fasano A, Sapone A, Zevallos V, Schuppan D; Gastroenterology. 2015 May;148(6):1195

  1. Food, the Immune System, and the Gastrointestinal Tract; Herausgeber: D. Schuppan und D. Corley; Non-celiac wheat sensitivity: Differential diagnosis, triggers and implications; Schuppan D, Pickert G, Ashfaq

Khan M, Zevallos V; Best Practice & Research Clinical Gastroenterology, June 2015, Vol. 29, Issue 3, p469

How the Diagnosis of Non-Celiac Gluten Sensitivity (NCGS) Should Be Confirmed: The Salerno Experts’ Criteria; Salerno Konsensuskonferenz 10/2014 zur Gluten (Weizen)-Sensitivität); Catassi C et al. Nutrients 2015

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